Über Emmi Pikler

Emmi Pikler – mehr als eine Kinderärztin

Emmi Piklers Lebenslauf startet in Wien, wo sie 1902 als Tochter einer Wiener Kindergärtnerin und eines ungarischen Handwerkers geboren wurde. Die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte sie in der österreichischen Hauptstadt, bis ihre Eltern 1908 mit ihr nach Budapest zogen. Der zweite große Einschnitt in der Biografie Emmi Piklers ist mit dem Tod der Mutter markiert – Emmi war gerade zwölf Jahre jung.

Emmi Piklers Ausbildung

Für ihr Medizinstudium kehrt die Wienerin zurück in ihre Geburtsstadt. 1927 promovierte sie und erhielt ihre pädiatrische Fachausbildung an der Wiener Universitäts-Kinderklinik bei Clemens von Pirquet und an der Kinderchirurgie bei Hans Salzer. 1935 wurde Emmi Pikler als Kinderärztin auch in Ungarn anerkannt.

Ihr Mann – Mathematiker und Pädagoge – bestärkte Emmi Pikler in ihren Ansätzen. Bei der Geburt ihres ersten gemeinsamen Kindes entschieden sie bereits, ihm Freiraum zur eigenen Entwicklung zu geben und die einzelnen Schritte mit Geduld zu begleiten.

Emmi Piklers Biografie – der harte Kampf

In den zehn Jahren, in denen sie als Familienärztin arbeitete, hatte Emmi Pikler mit schweren Problemen zu kämpfen: Zum einen, weil sie Jüdin war, zum anderen, weil ihr Mann von 1936 bis 1945 in politischer Gefangenschaft war. Nur durch die Hilfe der Eltern der Kinder, die sie betreute, konnte sie ihre kleine Familie vor der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg retten.

Nach dem Krieg wurde Emmi Piklers Lebensweg durch die Geburt zwei weiterer Kinder erhellt. Statt ihre Praxis wieder zu eröffnen, kümmerte sich die Kinderärztin nun um verlassene und unterernährte Kinder innerhalb einer ungarischen Organisation. 1946 gründete Emmi Pikler das „Lóczy“ – ein Säuglingsheim, das sie bis 1979 leitete. Dort lehrte sie auch nach ihrer Pensionierung ihre pädagogischen Leitsätze. 1984 starb Emmi Pikler nach kurzer, schwerer Krankheit.

Emmi Piklers Pädagogik

Emmi Piklers Ziele standen seit den Anfängen ihrer Ausbildung und mit der Geburt ihres ersten Kindes fest: Sie wollte die eigenbestimmte Entwicklung von Kindern und Säuglingen fördern und trat dafür ein, sich bei der Erziehung von Kindern in Geduld zu üben.

Emmi Pikler: Menschenbild & Leitsatz

Die Kinderärztin vertrat von Beginn an die Annahme, dass jeder Mensch in seiner Entwicklung einzigartig ist. Deshalb müsse er die individuelle Zeit erhalten, die er für die Entfaltung von bestimmten Fähigkeiten benötige. Also dürfe man die Entwicklung des Kindes lediglich aktiv begleiten und es unterstützen, aber nicht eingreifen.

Respekt gegenüber dem Sprössling sei somit das Wichtigste – nicht nur beim Spielen, sondern auch bei täglichen Ritualen wie Füttern, Baden oder Spaziergängen. Nur so kann ein inniges Vertrauen entstehen, das die Kinder in ihrer Entwicklung positiv beeinflusst. Klare Bezugspersonen, wie Eltern, Großeltern oder Erzieher, seien dementsprechend auch besonders wichtig. Sie sollten jedoch nicht ständig wechseln.

Emmi Piklers Einflüsse

Besonders inspiriert wurde Emmi Pikler 1935 in Budapest durch die Ansätze und Erkenntnisse Elfriede Hengstenbergs. Sie hatte auf die Erkenntnisse Elsa Gindlers und Heinrich Jakobys hingewiesen, dass es besonders wichtig sei, die naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung zu erforschen. Insbesondere sei es nötig, die ursprünglichen Fähigkeiten und Kräfte des Kindes zu erhalten. In den 20er Jahren hatten Gindler und Jakoby erkannt, wie die derzeitige Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern, deren freie Entwicklung hemmt, wie etwa:

  • die eigene Initiative der Kinder
  • ihre Ausdrucksfähigkeit
  • ihre Selbstständigkeit und Geschicklichkeit
  • ihre Bewegungsfähigkeit

Dies hätte Einfluss auf das gesamte Leben – auch im Erwachsenenalter. So sei das Verhältnis zum Arbeiten und Lernen maßgeblich beeinflusst. Emmi Piklers praktische Erfahrungen bei ihrer Arbeit bestätigten die Erkenntnisse über die ungestörte Entfaltung von Kindern Gindlers und Jakobys.

Und auch heutige Studien belegen, dass Kleinkinder, die nach Piklers Prinzipien des Raumgebens, Vertrauenschaffens, Bereitschaftzeigens, Beobachtens und Führens heranwachsen, sehr gute Voraussetzungen für eine positive und reife Persönlichkeitsentwicklung mit sich bringen.

Emmi Pikler: Vier Grundsätze

Emmi Piklers Methode und Pädagogik basiert auf vier Grundsätzen, die oft auch als drei Säulen zusammengefasst werden:

  1. Respekt vor der Eigeninitiative des Kindes und Unterstützung seiner Selbstständigkeit
  2. Unterstützung einer stabilen Beziehung des Kindes zu wenigen vertrauten Bezugspersonen
  3. Jedes Kind soll sich angenommen und anerkannt fühlen
  4. Förderung des körperlichen Wohlbefindens und der Gesundheit des Kindes
Säule 1: Die beziehungsvolle PflegeSäule 2: Die autonome BewegungsentwicklungSäule 3: Das freie Spiel
Die liebe- und respektvolle Pflege, also alltägliche Aufgaben wie Füttern, Baden oder Wickeln, schafft Geborgenheit und Vertrauen. Das Kind fühlt sich emotional sicher.

Fördert:
> Sozialkompetenz
> Eigeninitiative
> Selbstständigkeit

Konkrete Empfehlungen:
Sprechen Sie Ihr Kind direkt an Geben Sie Erklärungen (auch wenn sie Ihr Kind noch nicht versteht) Beziehen Sie Ihr Kind so oft es geht ein, auch wenn es anfänglich noch schwierig ist
Jedes gesunde Kind besitzt die Fähigkeit der selbstständigen motorischen Entwicklung. Dafür braucht es jedoch den Freiraum und die „Erlaubnis“ dafür, dies nach seinem eigenen Tempo zu tun.

Fördert:
> Selbstvertrauen
> Selbstwahrnehmung
> Selbstständigkeit

Konkrete Empfehlungen:
Lassen Sie Ihr Kind eigenständig sich selbst und seine Umgebung entdecken Zeigen Sie Interesse an den Entdeckungen Leisten Sie keine aktive Hilfestellung, aber schaffen Sie Anreize
Von klein auf sind Kinder in der Lage, sich selbstständig zu beschäftigen und „schöpferisch“ tätig zu sein. Voraussetzung dafür ist eine gute Spielumgebung.

Fördert:
> Kreativität
> Geschicklichkeit
> Selbstständigkeit

Konkrete Empfehlungen:
Beobachten Sie Ihr Kind intensiv Überfrachten und überfordern Sie Ihr Kind nicht Schaffen Sie Anreize für Ihr Kind, sich mit der eigenen Motorik auseinander zu setzen, z.B. durch Pikler Spielzeuge

Emmi Piklers Spielzeug und Geräte

Um Kindern die Möglichkeit der freien Entwicklung zu geben, entwickelte Emmi Pikler Geräte bzw. Spielzeuge, die die Motorik und Geschicklichkeit der Kleinen fördern, ohne dabei in ihre persönlichen Entwicklungsprozesse einzugreifen. Das wichtigste Spielzeug ist das Emmi Pikler Dreieck, das durch seine Schlichtheit die Fantasie des Kindes anregt und in dem Entwicklungsstadium neue Möglichkeiten der eigenen Entfaltung bietet.

Neben dem Kletterdreieck gibt es auch den Kletterbogen, sowie Verbindungsbretter. Aus diesen Grundbausteinen lassen sich mit etwas Kreativität und Erfindungsreichtum Tunnel, Wippen und ganze Spielplätze zaubern. Die Emmi Pikler Spielzeuge bieten Kindern Anreize, sich mit ihren Fähigkeiten auseinanderzusetzen und sich nach ihrem eigenen Tempo weiterzuentwickeln.

Ein weiterer wichtiger Aspekt neben der simplen Gestaltung der Spielzeuge Emmi Piklers, ist das Material dieser. Die Spielzeuge bestehen aus Holz und greifen somit auch auf dieser Ebene die Natürlichkeit des Spielens auf.

Emmi Pikler und Montessori

Neben Emmi Pikler haben sich auch andere Sozialforscher mit der Entwicklung des Kindes auseinandergesetzt. So begründete zum Beispiel die Ärztin Maria Montessori 1907 ihre eigene Pädagogik, die sich in vielen Punkten mit der Pikler-Pädagogik deckt und heute in vielen Kindergärten und Schulen zum Einsatz kommt.

Beide Frauen formulierten ihre Leitsätze ein wenig unterschiedlich, ihnen gleich bleibt jedoch die eigenständige Entwicklung des Kindes nach seinem individuellen Tempo. Auch ähnlich ist der Ratschlag an Eltern und Pädagogen, die Pikler und Montessori geben: Unterstützen Sie, geben Sie Anreize, aber lassen das Kind in seiner eigenen Geschwindigkeit voranschreiten und sich eigenständig entwickeln.

 Bild vom KindBild vom LernenRolle der Erzieher/Eltern
Emmi PiklerJedes Kind hat seine eigene Persönlichkeit und deshalb sein eigenes Lerntempo.
Es macht somit dann den nächsten Schritt, wenn es dazu bereit ist.
Motorische Fähigkeiten und Selbstbewusstsein entwickelt das Kind selbst, sofern es ein liebevolles Umfeld hat.
Die Persönlichkeit eines Kindes entfaltet sich dann am besten, wenn es sich selbstständig entwickeln darf.
Auch die Pflege ist Teil der Erziehung, da ein Säugling dabei die ersten sozialen Erfahrungen sammelt.

Umgebung muss Geborgenheit vermitteln.
Die Interaktion soll liebevoll und aufmerksam sein.
Eine intensive Kommunikation ist wichtig.
Marie MontessoriJedes Kind hat einen „inneren Bauplan“ nach dem es sich entwickelt.
Das Kind selbst ist der Baumeister und entscheidet selbst, wann es das nächste Lernfenster öffnet.
Montessoris Leitsatz heißt: „Hilf mir, es selbst zu tun.“
Das Kind lernt durch sein eigenes Tun, indem es mit allen Sinnen erprobt – besonders in den sensiblen Phasen.

Umgebung muss reizvoll gestaltet sein, damit sich Lernprozesse ergeben.
Beobachten ist ein wesentlicher Bestandteil.

Emmi Pikler heute: Rezeption & Vermächtnis

Auch heute noch findet Emmi Piklers Methode und Leitsatz in der Pädagogik Anklang und Umsetzung. So zum Beispiel im „Emmi-Pikler-Haus“ in Berlin – eine stationäre Einrichtung, in der Kinder aus belasteten Familiensituationen solange betreut werden, bis ihre weitere Lebenssituation geklärt ist.

Außerdem gibt es die „Emmi Pikler Gesellschaft“ in Berlin. Diese fördert die Verbreitung der Erkenntnisse Emmi Piklers. So gibt der Verein Einführungen in die Pikler Pädagogik, bietet Weiterbildungen und Beratung an und fungiert als Supervision für Therapeuten.

Auch Emmi Piklers „Lóczy“ hat seit 1946 in Budapest Bestand. Heute wird das Institut von ihrer Tochter, der Kinderpsychologin Anna Tardos, geleitet. In Wien wurde Emmi Piklers Vermächtnis ebenfalls geehrt: 2018 wurde eine Straße nach ihr benannt.

Emmi Pikler Bücher

Noch zu Lebzeiten veröffentlichte Emmi Pikler Bücher über ihre Leitsätze und Methodik, die auch heute noch erhältlich sind:

  • Emmi Pikler: „Miteinander vertraut werden. Erfahrungen und Gedanken zur Pflege von Säuglingen und Kleinkindern“
  • Emmi Pikler: „Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Untersuchungsergebnisse, Aufsätze und Vorträge“
  • Emmi Pikler: „Friedliche Babys – zufriedene Mütter. Pädagogische Ratschläge einer Kinderärztin“